Ich, Karel van Keulen (gesprochen ›Kölen‹), bin Jahrgang 62, wurde Schriftsteller auf dem dritten Bildungsweg und liebe die Freiheit als Selbstverleger bei Amazon. Ich bin verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder.

Bücher waren mir zeit Lebens treue Wegbegleiter. Auf der Fensterbank im WC meines Elternhauses lagen dicke Bildbände über Bayern und den Vatikan. Die Kochbücher thronten auf dem Winkelteil der Eckbank in der Küche. Und wenn der Fuß eines Bettes oder einer Kommode abgebrochen war, fungierten sie Ersatz. Ob Freund oder Verwandter, jeder musste glauben, wir seien eine überaus belesene Familie.

Das war leider nicht so. Mein Vater war der Besitzer der Bücher. Die »Maarten ’t Hart« Reihe, die gebundenen Romane von René Apple und die Bände des Brockhaus, den er ausschließlich aufschlug, um Kreuzworträtsel zu lösen. Nie gab er meinen drei Schwestern und mir das Gefühl, es könnten auch unsere sein. Ihm war nicht recht, wenn die Ordnung im Bücherregal durch ein fehlendes Werk gestört war. Er sah es sofort.

»Wer liest den Alders?«, schallte es durch die Wohnung. Oder »Wer hat das Groene Boekje?« (Das grüne Buch, sozusagen der niederländische Duden.) Penibel schrieb er jedes ›Vergehen‹ in ein kleines rotes Notizheft, das stets griffbereit auf der vorderen linken Ecke seines Schreibtisches lag. Um nicht zu vergessen, wer welchen seiner Bücherschätze entwendet hatte.

Bis ich mit 24 begann, mein eigenes Leben zu führen, hatte ich neben der Pflichtlektüre in der Schulzeit nichts gelesen. Ich kannte ›Das Attentat‹ von Harry Mulisch, ›Der Brief für den König‹ von Tonke Dragt, weil ich sie lesen musste. Die Romane von Robert Louis Stevenson oder Cees Nooteboom hatte ich nie in den Händen gehalten.

Im Januar 1983, ein Hauch von Weihnachtsgebäck und Tannennadeln lag noch in der Luft, bat meine Freundin mich mit den Worten: »Schatz, setz dich, ich muss dir etwas sagen« in unsere Küche.

Hunderttausend Dinge gingen mir durch den Kopf: Trennung, der Tod eines Familienmitgliedes, Geldsorgen. Mir sackten die Beine weg, ich saß. 

»Was?«, brachte ich heraus. Noch heute schwärmt sie von meinem Gesichtsausdruck.

»Du wirst Vater.« Sie strahlte mich an.

Ich fing an zu weinen, umarmte sie, verwischte ihr Make-up mit meinen Tränen, lachte. Meine Freude war riesig.

Wahrscheinlich denken andere werdende Väter an das Einrichten des Kinderzimmers oder: »Mist, ich muss mein Cabrio verkaufen!« Ich überlegte: Was kann ich besser machen als meine Eltern?Ein Vater-Sohn-Konflikt sollte meine Familie nicht belasten, auch wenn er seit der Antike nicht aus der Mode gekommen ist.

In Gedanken machte ich mir eine lange Liste. Ganz oben stand: ›Bücher für alle‹. Ich würde meinem Sohn – klar würde es ein Junge werden – abends vor dem Einschlafen vorlesen, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Wir würden gemeinsam ›Winnetou‹ mit verteilten Rollen vortragen oder … Oder was? Ich hatte keine blasse Ahnung von Kinder- und Jugendlektüre.

Zwei Tage später, zu jener Zeit wohnten meine deutsche zukünftige Frau und ich in Oberhausen, besuchte ich die gerade eröffnete Buchhandlung ›Wiebus‹. Dort tat sich für mich ein vollkommen neues Universum auf. Tausende Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sogar in Brailleschrift. Fürs Erste kaufte zehn Stück in deutscher Sprache.

Zuhause angekommen, las ich freiwillig mein erstes Kinderbuch ›Frierefritz‹. Ich habe es verschlungen. Danach war Tonke Dragt mit ›Das Geheimnis des siebten Weges‹ an der Reihe. Es folgten ›Die Schatzinsel‹, ›Der Ölprinz‹, ›Tausend und eine Nacht‹ und einige mehr. Ich versank in Welten voller Intrigen und Habgier, wurde zu Jim Hawkins, empfand den Schmerz von Atréju in ›Die unendliche Geschichte‹. Ich sog alles in mir auf. Nach so langer Zeit zu erkennen, was man vermisst hat, ohne es zu wissen, ist schmerzlich.

 

Acht Jahre und zwei weitere Kinder später saß ich im Kinderzimmer. Ich las aus einem Wunschbuch vor wie jeden Abend, an dem ich keinen Dienst hatte. Robinson Crusoe hatte grade seine Insel betreten, als meine Tochter Leni fragte, ob ich nicht eine eigene Geschichte erzählen könne. Eine kurze. Bis der dicke Schmöker zu Ende wäre, würden es Monate dauern. Und sie würde den Anschluss verpassen, wenn sie zu zeitig einschlief.

Das war die Geburtsstunde des Geschichtenerzählers Nepomuk Tabakel, wie ich mich nannte. Meine Kinder waren meine erste Fangemeinde. Seit jenem Tag wechselten sich Lesen und Erzählen ab. Die Abende füllten sich mit imaginären Welten anderer Planeten, Piraten mit Schätzen so groß wie ein Bus, Drachen und Dinosauriern.

Mit der Zeit entwickelte sich Nepomuk zum Erfinder der Abenteuer einer Kinderbande und der lustigen Begebenheiten doofer Mädchen im Zeltlager. Die nächtliche Unterhaltung wurde anspruchsvoller und ausgefeilter. Als die Kinder sich zu alt fühlten, weil Freunde und Freundinnen sie beanspruchten, wurden die Stunden der Illusionen und Fantastereien seltener. Schließlich zelebrierten wir sie nur noch an Feiertagen.

 

Vor ungefähr zehn Jahren brachte meine wunderbare Frau mich darauf, die Märchen des Nepomuk Tabakel aufzuschreiben.

»Für die Kinder«, sagte sie, »und für mich. Ich möchte sie einmal unseren Enkeln zum Besten geben.«

Das war der buchstäbliche Tritt in der Allerwertesten, den ich brauchte. Die Idee das Erdachte zu bewahren, gor seither in mir. Ich wollte schreiben und endlich tue ich es. Ich bin so glücklich wie an dem sonnigen Augusttag, an dem ich zum ersten Mal Vater wurde. Dieses Gefühl werde ich festhalten, hegen und pflegen, bis etwas ganz Besonderes herangewachsen ist. Ein eigenes Buch, ein Roman, mein viertes Kind. Vielleicht hätte ich früher darüber nachdenken sollen. Und vielleicht hätte ich so auch meinen Vater erreicht.